Bihać aktuell

Dirk Planert schrieb uns am 4. März 2020

Sehr verehrte Damen und Herren, Partner und Freunde!

Sie/Ihr alle habt in den Nachrichten mitbekommen was in Syrien, der Türkei und Griechenland passiert. Hier in Bihac kommen täglich neue Flüchtlinge an. Das jedoch noch nicht wegen der Lage in den genannten Ländern. Es sind diejenigen, die wir erwartet haben. Menschen aus Lagern in Griechenland, Serbien und Sarajevo, die den Winter dort abgewartet haben. Konkrete Zahlen gibt es nicht. In den vier offiziellen IOM Camps befinden sich etwa 3200 Menschen. 700 davon in den Familiencamps Borici und Sedra. Dazu kommen hunderte in den illegalen Spots. Das sind allein hier in Bihac etwa 30 Ruinen und andere Orte, in denen Menschen hausen. Der vergangene Sommer (Müllhalde Vucjak) war eine Katastrophe. Der Winter hart. Wir haben mehrere Wochen lang täglich Menschen bis zu 30 Kilometer tief im Wald gefunden und versorgt. Bei 30 Zentimeter Schnee und Minustemperaturen tief im Wald regelmäßig auch Frauen und Kleinkinder.

Omar im Wald

Um Weihnachten rum wollte ein kleiner Junge mitten im Wald einen Kuss. Er war mit seinen Eltern unterwegs nach Europa, nahe der Grenze zur EU. Er ist jetzt in den Niederlanden und sicher. Ich stehe mit seinen Eltern in Kontakt. Sie haben mir ein Bild geschickt. Es gibt hier auch gute Nachrichten. Die drei sind Flüchtlinge aus Syrien. Mehrfach waren sie bereits zurückgepusht worden. Nun haben sie, was sie gesucht haben. Frieden, Sicherheit und täglich etwas zu essen für ihren Sohn Omar. Er ist nun zwei Jahre alt.

Niemand weiß, was in den nächsten Tagen/Wochen in Griechenland passieren wird. EU Kommissionspräsidentin von der Leyen sagte gestern in Griechenland, das die europäischen Werte verteidigt werden müssten, um im selben Atemzug die Griechen für den Grenzschutz zu loben und 100 weitere Frontex Mitarbeiter anzukündigen. Dort sind Flüchtlinge an der Grenze getötet worden. Vor Lesbos ist ein Kind ertrunken.

Für keine vernünftige Lösung gibt es eine politische Mehrheit in der EU. Wir hier vor Ort müssen also davon ausgehen, dass da einiges auf uns zu kommt. Die großen Hilfsorganisationen haben im vergangenen Jahr bereits auf breiter Ebene versagt. Es ist kein Verlass mehr. Auf gar nichts. Die Europäische Union hat ihr Wertefundament verlassen.

Offenbar haben viele von uns ein anderes Verständnis von Europa als Frau von der Leyen. Eines das sich an die eigenen Asylgesetze hält, das wäre schon mal ein Schritt. Aber Politik ist nicht mein Job. Trotzdem habe ich in Brüssel auf Einladung gesagt, was zu sagen ist. Ich stehe im Austausch mit den sehr engagierten EU Abgeordneten Dietmar Köster, Erik Marquardt und Bettina Vollath. Das ist notwendig und sinnvoll. Nur die Politik kann Lösungen finden. Bis dahin gilt es, Menschen in Notsituationen zu helfen, die Menschenrechte und auch Europa zu verteidigen. Das, was ich und ich denke viele von uns, unter Europa verstehen: Die Würde des Menschen…

Kurz zum Stand der Dinge:

Humanitäre Hilfe wird in Bosnien als illegale Arbeit bewertet. Die Politik will nicht, das „Migranten“ geholfen wird. Gestern habe ich nun endlich die White Card (Aufenthaltsgenehmigung) bekommen und bin nun legal hier. In den nächsten Tagen hoffe ich auf das Visum und die Arbeitsgenehmigung. Dann hört das Problem mit der Polizei endlich auf. Die Lösung hängt eng zusammen mit der Gründung des bosnischen Hilfsorganisation SOS Bihac durch meinen Freund Zlatan Kovacevic. Ich bin dann in wenigen Tagen offiziell freiwilliger Mitarbeiter dieser bosnischen NGO und damit legal in meiner Arbeit.

In den vergangenen Wochen haben wir die Menschen in den Flüchtlingsspots beliefert. Das sind etwa 30 Hausruinen, eine alte Fabrik und andere elendige Orte. Freiwillige aus Deutschland, Österreich und Italien waren hier und haben geholfen. Viele davon selbstständig. In der Regel fahre ich mit neuen Helfern die Spots in der Region ab und ab dann teilen wir uns auf. Das ist sehr effektiv. Wenn alle unterwegs sind, dann sind das mehrere Fahrzeuge. Wir haben ein mietfreies großes Lager in einem Vorort. Wenn notwendig, dann helfen wir auch verarmten bosnischen Familien. Es geht um Menschen.

Vor kurzem waren erneut Bettina Vollath (MEP) und eine spanische EU Parlamentarierin hier. Regelmäßig sind Journalisten aus verschiedenen Ländern, viele melden sich und wollen uns begleiten. So ergibt sich was sein muss: Die Bürger in Europa müssen wissen, was sich hier an den Außengrenzen abspielt. Zu viele nehmen das mit einem Schulterzucken hin.

Es wird noch ein paar Tage dauern, bis ich meine Papiere habe. Bis dahin muss ich hier in Bihac noch „unter dem Radar“ arbeiten. Zlatan ist hier und macht weiter. Ich kann also für ein paar Tage nach Tuzla. Freiwillige dort berichten, das sich am Bahnhof aktuell 500 Menschen aufhalten. Viele Frauen und Kinder darunter. Mein Anhänger ist bereits voll beladen. (Wir haben neulich eine große Ladung per LKW vom „Aachener Netzwerk“ bekommen). Ich nehme den Sani-Rucksack mit. Morgen früh geht es los. In ein paar Tagen dann zurück nach Bihac.

Meine allergrößtes Danke an unsere bisherigen Unterstützer wie: Aachener Netzwerk e.V., Solingen hilft e.V, building one world e.V., Bauern helfen Bauern und SOS Balkanroute in Österreich, die Brüder der Loge „Zur Alten Linde“ in Dortmund, die EU Parlamentarier Vollath, Köster und Marquartd sowie viele kleine Leute an vielen kleinen Orten…

Es wäre eine große Hilfe, wenn Ihr/Sie, diese Mail weiterleiten könntet. Viele von Euch/Ihnen haben schon viel gegeben. Unser Kreis muss größer werden, damit es weiterhin funktioniert.

Wer uns unterstützen will, kann an die Humanistische Union Lübeck oder das Aachener Netzwerk spenden. Die Spenden sind so von der Steuer absetzen und das Geld kommt trotzdem bei SOS Bihac an. (Bitte Verwendungszweck „SOS Bihac“ angeben). Jede noch so kleine Hilfe werden wir brauchen. Lebensmittel und Schlafsäcke sind im Augenblick das Wichtigste.

Manchmal packt mich hier die Wut. Ich drehe den ersten Buchstaben um. In unserer Sprache ist das zum Glück möglich. Dann wird daraus Mut. Das ist dann eine positive Energie.

In diesem Sinne – bleibt behütet.

Mit herzlichen Grüßen aus Bihac

Dirk Planert
Journalist