Bihac

Über den Hilfstransport nach Bihac und die Lage vor Ort

Die Humanistische Union Lübeck hat schon 2015/2016 einen Hilfstransport nach Idomeni gemacht.
Im Herbst 2018 hörten wir von Pushbacks auf der Balkanroute und der menschenunwürdigen Lebenssituation der in Bosnien Gestrandeten.
Die Lage an der EU-Außengrenze ist also oft ähnlich. Mitte 2019 hörten wir durch die Berichte von Dirk Planert von dem Lager in Vucjak, auf einer ehemaliger Müllhalde. Durch private Kontakte hörten wir auch vom Plan des Aachener Netzwerks, einen Hilfstransport dort hin zu machen. Was lag also näher, als sich diesem anzuschließen?

Der erste Transport fand noch 2019 statt und wir unterstützten ihn „nur“ durch eine Spende, die fast die Speditionskosten deckte.

Für den zweiten Transport Anfang Februar 2020 sammelten wir nicht nur Geld, sondern auch gebrauchte Winterkleidung. Wir schrieben die Spender unsere Idomeni-Aktion sowie unsere „normale“ Mailingliste an und baten um Geld- und Sachspenden. Der Flur unserer Beratungsstelle füllte sich immer wieder. Dafür noch mal vielen Dank!
Hinzu kamen noch vielen Spenden aus dem Schuppen F der Flüchtlingshilfe.
Zusätzlich sollten wir noch eine Spende von 200 Winterjacken der Outdoorbekleidungsfirma Bergans in Norderstedt abholen. Wie sollten wir das alles nach Aachen zum „großen“ Transport bekommen?
Kontakte eines ehrenamtlichen Vormundes aus dem HU-Projekt NICHT ALLEIN führten uns zur Firma PostNord Logistics GmbH, die uns weiter helfen wollte.


Mit Unterstützung von Stattauto wurden die Lübecker Spenden zunächst mit einem Sprinter zur Firma Bergans nach Norderstedt gebracht. Die PostNord Logistics GmbH spendete den Transport von dort aus nach Aachen.
Und: das klappte alles mit netten, entspannten Logistikern wie am Schnürchen.

Der Transport von Aachen nach Bihac wurde vom Aachener Netzwerk für humanitäre Hilfe und interkulturelle Friedensarbeit e.V. organisiert. Sie nahmen unsere Spenden in Aachen in Empfang und brachten sie ein paar Tage später nach Bihac – insgesamt über 3 Tonnen Hilfsgüter.

Helga machte sich auf die Reise nach Bihac, um sich dort einen persönlichen Eindruck von der Lage vor Ort zu verschaffen.

31. Januar 2020: Unser LKW kommt in Aachen an.

Montag, 10.2.2020

Nach 16 Stunden Busfahrt komme ich in Kroatien an und gönne mir einen Erholungstag in Rijeka. Von dort fahre ich weiter nach Karlovac. Über eine kleine Straße fährt der Bus zwei mal am Tag von Karlovac in Kroatien nach Bihac in Serbien. Kleine Dörfer mit deutlich sichtbaren Kirchen oder zumindest Kreuzen wechseln sich ab. Nach einer Stunde wird die schmale Straße unvermutet durch eine vierspurige Grenzanlage unterbrochen. Danach schlängelt sich die Strasse wieder zweispurig durch eine ähnliche Landschaft. In den Dörfern stehen nun Minarette statt Kirchen.
Angekommen in Bihac fallen Männer auf, die aus Pakistan, Afghanistan… kommen könnten. Erst jetzt merke ich, dass ich in Rijeka und Karlovac keinen begegnet bin.

Ich versuche, mich zu meiner Unterkunft durchzufragen. Dabei komme ich mit vielen freundlichen Menschen in Kontakt, die Englisch oder Deutsch sprechen, mich aber nur ungefähr in die Richtung der Pension schicken. Dreihundert Meter vor dem Ziel rufe ich aus einem Supermarkt, in dem keiner die Straße der Pension kennt, meine Gastgeberin an, die mich abholt. Ich lerne, dass man besser mit dem Namen eines Cafés oder Supermarktes weiter kommt als mit einem Straßennamen.
Nach einem Treffen mit Dirk Planert hole ich einen Leihwagen ab und besorge mir eine bosnische Sim-Karte. Mit einem ebenfalls aus Deutschland angekommenen Fotografen verbringen wir den Abend mit der etwas komplizierten Einrichtung unserer bosnischen Telefonnummer.

Dienstag, 11.2.2020

Der Lastwagen kommt an und das ohne die von Dirk erwarteten Probleme wie stundenlange Zollförmlichkeiten, doppelte Gebühren. Detlef Monjean, dem Fahrer, und seinem Bruder gehört die Spedition Monjean Transporte. Detlef und seine Frau haben die Hilfsgüter gefahren und packen beim Ausladen mit an:

Der LKW wird entladen

Während den Fahrten zur Grenze, zum Lager (für die Kleidung, Decken, Schlafsäcke…) erfahren wir mehr über die Stadt Bihac: Von den 40.000 Einwohnern sind 25% Geflüchtete. 20.000 bosnischen Arbeitsmigranten haben die Stadt in den letzten Jahren verlassen. In der Stadt gibt es nur einen Krankenwagen und manchmal auch nicht genug Medikamente. Weder für Geflüchtete noch für Einheimische. Die Stadt hat vielen Geflohenen geholfen, war und ist aber ohne die Unterstützung der Landesregierung total überfordert. 2019 brachte de Stadt Geflüchtete auf einer Mülldeponie in Vucjak unter – ohne Anschluss an Wasser, Strom und Kanalisation. Schließlich wurden 700 Geflüchtete nach Sarajevo transportiert, wo sie wenigstens halbwegs vernünftig untergebracht wurden.

In Bihac werden in einer großen Industriehalle mit der Kapazität von ca. 2.000 Betten ungefähr 1.000 Geflüchtete untergebracht. Vor der Halle sitzen viele Menschen, die nicht aufgenommen werden. Andere befinden sich in leerstehenden, abbruchreifen Häusern. In zwei dieser abseits gelegenen „Unterkünften“ habe wir nach einer Mittagspause Hosen, Jacken und Schuhe verteilt, die gerade aus Aachen neu angekommenen waren.

Mittwoch, 12.2.2020

Heute Morgen war ich im BINGO-Supermarkt auf der Suche nach Bananenkisten, in die Lebensmittel für 80 Geflüchtete eingekauft und gepackt werden sollten. Nach etwas Irritation haben mir zwei Angestellte sehr geholfen.
BINGO passt zu dem, was die Geflüchteten GAME nennen. Das ist das große Lotteriespiel um über die Grenze zu kommen. Auf meinem Rückweg aus dem Supermarkt kamen mir zwei Geflüchtete mit Schlafsack und Wasserflasche entgegen. Es wird gesagt, dass man am Besten morgens zum Game geht, aus der Stadt in die bewaldeten Berge. Im Morgengrauen des nächsten Tages kommt man im Wald an die Grenze und versucht sie unbemerkt zu überqueren. Die Erfolgschancen an der Grenze, die durch Drohnen mit Wärmebildkameras überwacht wird, sollen im Morgengrauen besser sein als am Tag.
Die Verlierer des Games kommen häufig ohne Handy, Geld, manchmal auch ohne Schuhe, dafür aber mit Verletzungen zurück. Vor allen Dingen sie benötigen die Hilfe von Dirk Planert und SOS Bihac, die sie mit Lebensmittel und Wärme versorgen.

Mit Aladin, einem Sanitäter, der in einer Sanitätsstation arbeitet und in seiner Freizeit zwei bis drei mal in der Woche Geflüchtete versorgt, fahre ich die Aufenthaltsorte, Spots genannt, ab.
In einer verlassenen Fabrik übernachten mal 100 und mal 30 Geflüchtete. Wir gehen die Treppe in den ersten Stock des völlig zerstörten Gebäudes über Schotter. Nur wenige Räume haben Fenster und Türen. Im ersten Raum ohne Türen und Fenster stehen 8 Männer am offenen Feuer. Sie verfeuern die auffindbaren Holzteile des Gebäudes. Weiter hinten gibt es einen ca. 20 qm großen Raum, in dem 10 Afghanen leben.

Hier steht der von Dirk konstruierte Ofen, von dem er für die wechselnden Unterkünfte 30 bauen ließ (zwei Menschen sind schon an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben). Aladin versorgt die Wunde am Bein eines Mannes, die er sich beim Game zugezogen hat. Wir verteilen Salbe gegen Krätze im ersten Stadium und Tabletten zur Wasserreinigung für unterwegs. Die verzierten Wände sprechen von Heimweh.

Draußen am Auto werden Essensvorräte aufgefüllt, Taschenlampen und warme Kleidung (Schuhe, Hosen und Jacken) ausgegeben. Unsere Männerschuhe sind für die schmalen Afghanen und Pakistani in der Regel zu groß. Sie brauchen Größe 41 – 43 statt 45.
Der Beobachter, der sich selbst Direktor nennt, fragt Aladin wer wir sind und was wir machen. Alles muss draußen immer schnell gehen, damit die Polizei nicht verständigt wird.
Der nächste Stopp ist ein drei mal drei Meter „großes“ Haus, in dem 10 Männer wohnen. Als wir zum Auto zurückkehren, kommen acht weitere Männer und Jungen auf uns zu. Sie sind deutlich schwächer und ausgehungert. Einige sind erkältet und haben Fieber. Auf dem Parkplatz zeigen sie uns ihre Wunden. Die Krätze im Stadium 3 haben entzündete und zum Teil eitrige Wunden. Reinigung, Salbe und Verband reichen nicht mehr aus, lerne ich. Sie brauchen Antibiotika, die wir nicht mehr haben. Wir versprechen, in zwei Tagen mit Medikamenten, Schlafsäcken und Schuhen wieder zu kommen und die Wunden neu zu versorgen.
Der Dritte Spot ist nicht mehr vorhanden. Auf dem Gelände sind Bauarbeiter. Aladin sucht einen weiteren Unterschlupf, kann ihn aber nicht finden.

Heute ist es sonnig und trocken. Trotz Kälte haben sich einige auf den Weg gemacht. Am Abend treffe ich wieder kleine Gruppen, bereit zum Game in eiskalter Nacht…

Donnerstag, 13.2.2020

Derzeit sind ca. 10 – 15 Aktive vor Ort. Darunter Krankenpfleger, Arzt, Anwalt und Alleskönner. Hinzu kommen sporadisch Volontäre aus Österreich, Deutschland, …

Alle haben sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass das Flüchtlingscamp auf der Müllkippe aufgelöst wird. (Jetzt hat die Stadtveraltung von Bihac dort die Unmengen von in der Stadt streunenden Hunden ausgesetzt). SOS Bihac muss jetzt zwar viele Lager versorgen, hat aber auch für den bürokratischen Akt der Gründung einer Hilfsorganisation Zeit gefunden. Sie hoffen, dass sie in Kürze als einzige Hilfsorganisation die Genehmigung erhält, im Grenzgebiet zu arbeiten. Bis dahin werden Füße still gehalten und die Freiwilligen fahren nicht die Routen der Geflüchteten im Wald ab. Dies wird von der Polizei als Schlepperei betrachtet, kostet im besten Fall 700 Euro, lange Verhöre bei der Polizei und jede Menge Ärger für SOS Bihac.

Auch die Versorgung der illegalen Camps ist untersagt. Die Helfer*innen vor Ort sind vielen Anfeindungen, bis hin zu Morddrohungen, ausgesetzt. Die einzelnen Flüchtlingshelfer*innen sind aber gut vernetzt. Gestern wurde auch das Lager meiner Vermieterin mit den Sachen aus Deutschland aufgefüllt. Da sind die Wege kürzer.

Heute sind mir die Wege schon bekannter und um mit der illegalen Versorgung der illegalen Camps die hier lebenden Helfer nicht mit Polizeikonversation zu beschäftigen, will ich nur schnell das Essen abliefern und wieder einkaufen fahren. Aber… die jungen Männer zeigen auch gleich ihre Wunden. Neben der Krätze haben sich viele die Füße wund gelaufen und die nicht vorhandene Waschmöglichkeit trägt nicht zur Heilung bei. Morgen kommt auch wieder Aladin der Sanitäter mit. Ich kann nur desinfizieren, Hausmittel verteilen und die Bestellungen wie Schlafsack, Schuhe und Jacken für morgen entgegen nehmen.

Die Roma-Familie

Nachmittags beliefere ich noch eine Roma-Familie, u.a. mit Windeln. SOS Bihac kümmert sich also nicht nur um Flüchtlinge, sondern auch um andere Hilfebedürftige.

Freitag, 14.2.2020

Heute entrissen uns die vielen, angekommenen Geflüchteten Schuhe, Hosen, Schlafsäcke und Essen. Bei der Krankenversorgung wurde klar, dass die kroatische Polizei sie in der letzten Nacht mit Pfefferspray zurückgedrängt hatte. Zwei Menschen hatten schmerzende Augen, drei Knie- und Beinverletzungen. Auf der Webseite https://www.borderviolence.eu/ dokumentieren Organisationen und Einzelpersonen die Menschenreichsverletzungen an der Grenze. Allein im Januar registrierte das Netz 263 Pushbacks. Die Organisation rigardu dokumentierte diesen „Einzelfall“. Die deutsche Übersetzung:

„Wir waren Flüchtende, die aus Bosnien und Herzegowina nach Kroatien gegangen sind. Nach zwei Tagen im Wald hat uns die kroatische Polizei am 26.09.2018 um 02:30 Uhr in Prijeboj verhaftet. Sie haben zwei meiner Freunde stark geschlagen. Die Polizei hat einem meiner Freunde aus Palästina die Hand gebrochen und einen Zahn meines Freundes aus dem Sudan beschädigt. Dann brachten sie uns alle auf schreckliche Weise in einen geschlossenen Polizeiwagen, es war sehr schwierig für uns, dort einzuatmen. Nach einer halben Stunde hielten sie an und durchsuchten uns alle. Plötzlich bekam mein Freund aus Myanmar einen akuten Nervenanfall, sein Blutdruck stieg an, seine Füße und Hände waren sehr kalt. Wir schlugen an die Wände, um den Polizeiwagen zum Anhalten zu bringen, bis sie den Zustand unseres Freundes überprüften und dann weiterfuhren. Nur 30 Minuten später, als wir die Polizeistation erreichten, verlor unser Freund bereits das Bewusstsein, als wäre er gestorben, und hielt sein Herz, als würde es brennen. Sein Herz war schwach und manchmal weinte er. Die Polizei hat meinem Freund nicht geholfen. Nur zwei Freunde und ich haben geholfen.
Auf der Polizeistation warteten wir weitere 20 Minuten auf den Arzt, schließlich kam er und ordnete einen schnellen Transfer ins Krankenhaus an. Danach wurden wir alle in den bosnischen Wald gefahren, wo sie uns absetzten.“

Freitag, 14.2.2020

Heute morgen um 7 erhielt meine Vermieterin einen Anruf von einem Geflüchtete der 4 Tage ohne Essen zurück laufen musste. Er hat das Spiel wieder verloren. Vielleicht klappt’s beim 20. Mal?

In der ganzen Stadt ist ein ständiges Gehen und Ankommen von kleinen Gruppen, meist 8 bis 10 Jungen und Männer aus Pakistan und Afghanistan. Wenn an einer Ruine Wäsche zu sehen ist, leben dort Geflüchtete. So finde ich die Versorgungsstationen.

Unterkunft?

Eigentlich wäre in dem riesigen Flüchtlingslager der IOM Platz, aber sie nehmen nur 1000 Menschen auf. Während wir uns in Lübeck für kleinteilige und dezentrale Unterbringung einsetzen, fordern die Aktivisten in Bihac die Unterbringung von 2000 statt 1000 Geflüchteten in den rissigen Hallen der International Organization for Migration (IOM) https://bih.iom.int/bs

Zum gemeinsamen Ansturm auf die Grenze wurde für heute 50 km entfernt per twitter, whatsapp und Flugblatt aufgerufen. Es kamen aber nur 30 – 40, die nicht auf die von der Polizei abriegelte Straße konnten.

Auf zum Sturm auf die Grenze

Samstag, 15.2.2020

Ich bin auf der Rückfahrt nach Deutschland. Voller Eindrücke. Müde.
In Kroatien werden bis 40 km nach der bosnischen Grenze alle Fahrzeuge von der Polizei nach Personen durchsucht. Wir wissen nicht warum, aber wir haben unsere Vermutungen…

Pro Asyl zu den Zuständen an der kroatisch-bosnischen Grenze

Türsteher Kroatien: Brutale Menschenrechtsverletzungen im Namen Europas

Mehr Infos im „Balkan Region Report“

Balkan Region Report 2020 des Border Violence Monitoring Network (Englisch)